„In Zürich ist es nicht so schlimm wie in Hamburg oder Berlin. Leider lindert das Daniels Leid nicht. Er hat seinen vermeintlich sicheren Schlafplatz bei einem Bekannten verloren, und nun lösen sich auch noch seine Schuhe auf. Er freut sich, mich zu sehen. Seine Schuhe scheinen ihm egal, ihn beschäftigen andere Fragen. Ich kann ihm nur schwer folgen, im Zentrum seines Redestroms stehen Menschen, die ihm wohl Unrecht getan haben.
In einem Winter wie diesem, wo wir von den Sozialwerken Pfarrer Sieber in Zürich eine deutlich höhere Anzahl Schutzsuchender als je zuvor haben, ist mir der kleine Junge aus der biblischen Erzählung der Speisung der 5000 (Matthäus Evangelium 14,13-21) besonders nah. Angesichts einer überwältigenden Menschenmenge verzweifeln die Jünger am Ende eines langen Tages an Jesu Forderung, den Menschen zu essen zu geben. Ein kleiner Junge, der in der Menge steht, lässt sich nicht einschüchtern. Er bietet an, was ihm zur Verfügung steht: fünf Brote, zwei Fische. Die Jünger greifen sein Angebot auf, im Wissen darum, wie unsäglich wenig das scheint, und vertrauen alles weitere Jesus an. Der segnet die Mahlzeit und «teilte an die Leute aus, so viel sie wollten». Ein Wunder.
In unserer Arbeit ist es nicht nur körperlicher Hunger, dem wir begegnen. Häufig sind es seelische Belastungen, die fast noch schwerer wiegen. Die Menschen, denen wir auf der Gasse begegnen, tragen ihr Schicksal oft lange Zeit allein, kämpfen mit ihrer Vergangenheit oder erniedrigenden Erlebnissen. Mit einem Gespräch ist es da nicht getan. Unsere Seelsorge und unsere Gassenarbeit sind in dieser Zeit täglich unterwegs und stimmen sich eng mit anderen sozialen Einrichtungen ab. Die Freiwilligen und Mitarbeitenden unserer Notschlafstellen motivieren sie auch und vor allem in härtesten Nächten dazu, nicht aufzugeben. Das Wunder einer neu entstehenden tragfähigen Beziehung dürfen wir so immer wieder erleben.
Eine Deutungsmöglichkeit zur Speisung der 5000 geht so: Es ist gut möglich, dass die Hörer Jesu an diesem Tag ein wenig Proviant dabei hatten, aber dass sie es nicht wagten, diesen auszupacken – was, wenn alle etwas davon haben wollen und es am Ende nicht mehr für einen selbst reicht? Als Jesus den Proviant des Jungen vertrauensvoll auszuteilen beginnt, ermutigt das auch alle anderen, zu teilen, was sie haben. Wir kennen es von gemeinsamen Festen: Am Ende bleibt manches Mal fast mehr übrig, als wir mitgebracht haben.
Ob dies nun wirklich so gewesen sein mag oder doch ein veritables Wunder geschah: Das eigentliche Wunder bleibt für mich der kleine Junge. Unverzagt teilt er, was ihm zur Verfügung steht. Und ermutigt damit vielleicht eine ganze Gemeinschaft, das Ihre zu teilen und am Ende so mehr zu erhalten, als jede und jeder mitgebracht hat. Dieser Winter scheint manches Mal besonders hart. Wir geben, was wir
haben. Im Vertrauen darauf, dass es am Ende für alle reicht.“
Friederike Rass, Gesamtleiterin Sozialwerke Pfarrer Sieber

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Quelle: „Sieber Ziitig“, Newsletter Februar 2025
Bilder: © Sozialwerke Pfarrer Sieber