1.-August-Ansprache 2011 von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann

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Heute feiern wir nicht nur das Bündnis über das gemeinsame Recht und die gegenseitige Verteidigung, das die freien Männer von Uri, Schwyz und Unterwalden 1291 schlossen, sondern auch das 1150. Jubiläum der ersten urkundlicher Erwähnung Langenthals im Jahr 861. Der Stadt und Gemeinde Langenthal gratuliere ich herzlich zum hohen Geburtstag. Dagegen erscheint der eidgenössische Bund ja direkt jung. Entscheidend ist wohl nur, dass alle beide jung geblieben sind!

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Der Pakt von 1291 war lange Zeit in Vergessenheit geraten und wurde erst im 18. Jahrhundert wiederentdeckt. In seiner lateinischen Originalversion wurde er 1760 veröffentlicht. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde er auf die Initiative des Bundesrats zur Gründungsurkunde der Schweiz erklärt. 1891 wurde er anlässlich seines 600-jährigen Bestehens zum ersten Mal gefeiert. Zu dieser Zeit, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, zählte die durchschnittliche Arbeitswoche in der Schweiz 78 Stunden! In Berlin hatte gerade die «Erste Internationale Konferenz für Arbeiterschutz» stattgefunden. An dieser entschieden die Teilnehmerländer, per Gesetz einen obligatorischen Ruhetag pro Woche einzuführen und die erlaubte Arbeitszeit auf 13 Stunden pro Tag zu senken.

Wie hat sich die Welt seither verändert! Wir feiern den 1. August heute also seit 120 Jahren. Es ist immer ein feierliches Fest, auch ein fröhliches, oft aber auch eines mit einer nachdenklichen Note. 2011 wird ein schwierigeres Jahr für unser Land als wir uns das zu Beginn des Jahres vorgestellt hatten. Ausgelöst durch die internationale Schuldenkrise ist der Schweizer Franken zur begehrtesten Währung der Welt geworden. Das darf uns mit Stolz erfüllen, weil darin das grosse Vertrauen der Welt in die Stärke unserer Wirtschaft und in die Stabilität unserer Gesellschaftsordnung zum Ausdruck kommt.

Wie wir wissen, hat das Ganze aber eine Kehrseite: Die Stärke des Schweizer Frankens schreckt ausländische Touristen ab und in vielen Unternehmen, vor allem in jenen, die im Export tätig sind, müssen Margen geopfert werden, um vorerst die Zahl der Bestellungen noch einigermassen halten zu können. Die Bedrohung eines Anstiegs der Arbeitslosenzahlen könnte bald Realität werden. Wir müssen davon ausgehen, dass die aktuelle Frankenstärke mehr als nur ein vorübergehendes Problem ist. Der Schweizer Franken wird seinen Stand von vor 2 – 3 Jahren in absehbarer Zeit nicht mehr erreichen. Die Umwälzungen auf dem Finanz- und Kapitalmarkt, die durch die Finanz- und Schuldenkrise zuerst in den USA und dann auch in Europa ausgelöst wurden, sind zu tiefgreifend.

Unsere Lage ist zwar bedeutend besser als diejenige vieler anderer Länder. Wir sind aber viel zu stark in das globale Finanz- und Kapitalsystem involviert, als dass wir uns den Auswirkungen der gegenwärtigen internationalen Schuldenkrise entziehen könnten. Auch wenn wir über einen starken eigenen Finanz- und Kapitalmarkt und eine souveräne Geldpolitik verfügen, müssen wir akzeptieren, dass die Mittel, über die wir verfügen, kurzfristig nicht ausreichen werden, um die Situation zu lindern. Aus diesem Grund müssen wir uns auch bewusst sein, dass sich ins-besondere unsere Export-Wirtschaft, einschliesslich der Tourismus-Industrie und der Hotellerie, vor einigen besonders schwierigen Jahren befinden. Ich kann Ihnen nur versichern, dass der Bundesrat alles unternimmt, was in seiner Macht liegt, damit wir alle diese schwierige Zeit gemeinsam erfolgreich überstehen.

Der amerikanische Philosoph Santayana sagte vor fast 70 Jahren:

«Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.»

Erlauben Sie mir deshalb einen kurzen Blick in die Vergangenheit. Zwischen 1973 und 1974 gewann der Franken im Vergleich mit dem US-Dollar, der damaligen Hauptwährung im Exportgeschäft, in nur 4 Monaten 22 % an Wert. Der Kursgewinn des Franken wurde aufgrund des Exporthandels mit unseren 15 wichtigsten Handelspartnern gewichtet und erreichte fast 20 %. Innerhalb der 4 Jahre von 1970 bis 1974 stieg der Frankenkurs im Vergleich zum Dollar um fast 60 %! Der Tourismus fiel in eine tiefe Krise und litt im Sommer 1974 unter den Nachwehen der Ölkrise. Täglich schrieben die Medien über die Überbewertung des Schweizer Frankens und über die dramatischen Folgen, vor allem für den Arbeitsmarkt. In der Uhrenindustrie, um nur ein Beispiel zu nennen, verschwanden innerhalb von zehn Jahren fast die Hälfte der Unternehmen und ungefähr 40 % der Arbeitsplätze.

Wiederholt sich die Geschichte? Das glaube ich nicht, auch wenn ich den Ernst der Situation keineswegs unterschätze. Wieso? Weil in den 70er Jahren noch weitere erschwerende Faktoren hinzukamen. Innerhalb von 18 Monaten hatte sich der Ölpreis damals vervierfacht. Die Inflation und die Schuldzinsen erreichten oder überschritten 7 %, und die Unternehmen waren damals noch bei Weitem nicht so effizient organisiert wie heute.

Sie wissen, wie es weiterging: Unsere Uhrenindustrie eroberte den Weltmarkt dank innovativen Strategien und Produkten auf eindrückliche Weise zurück. Sie ruhte sich nicht auf der Unterstützung des Staats aus, sondern sie glaubte an sich und beschaffte sich die Mittel für ihre Wiederbelebung unter der Führung von tatkräftigen und charismatischen Persönlichkeiten selber.

Wenn ich nun die aktuelle Lage der Exportwirtschaft betrachte, ist das Beispiel der Uhrenindustrie für mich wegweisend. Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Exportindustrie genau wie der Tourismus und die Hotellerie den Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, erfolgreich begegnen werden. Dies umso mehr, als der Ölpreis, im Gegensatz zu damals, heute keinen erschwerenden Faktor darstellt. Die Inflation und die Schuldzinsen sind ausserordentlich tief. Vor allem aber sind heute das Innovationspotenzial, die Effizienz, das technische Know-how und die technologischen Möglichkeiten unserer Unternehmen bedeutend höher als damals. Trotzdem dürfen wir uns keine Illusionen machen:

Wir müssen uns auf eine schwierige Situation einstellen, wie wir sie seit Ende der 1970er Jahre nicht mehr erlebt haben. Das sehen inzwischen viele so. In einem Wahljahr verursacht dieses Bewusstsein eine Flut von scheinbar einfachen Ratschlägen, eine Mischung von veralteten Rezepten und oft nicht zu Ende gedachten Vorschlägen.

Einige wiederholen wie ein Mantra: «Es gibt Lösungsvorschläge, die rasch umsetzbar und sozialverträglich sind», ohne aber konkret zu sagen, worin diese Lösungen bestehen. Andere selbsternannte Experten behaupten, dass man den Franken nur an den Euro anbinden müsse. Oder die Notenpresse anwerfen, den Mehrwertsteuersatz senken, den Export subventionieren oder Kampagnen finanzieren, die die Chinesen, Inder und Russen ermutigen, in der Schweiz Ferien zu machen.

Ich habe es bereits erwähnt und will es hier nochmals wiederholen: Meine Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat und ich verfolgen zusammen mit dem Direktorium der National Bank die Entwicklung der Lage permanent. Wir prüfen alle Vorschläge, stellen allerdings fest, dass eine Mehrheit der Vorschläge, die wir erhalten, rein populistisch ist. Sie sind weder neu noch originell, sondern oft nur Augenwischerei und Teil eines Wahlprogrammes. Einige fordern sogar Rücktritte und sehen darin eine Wunderlösung!

Als Winston Churchill, Premierminister Grossbritanniens, seine Rede vor dem Unterhaus am 13. Mai 1940 vorbereitete, erklärte er seinem Sekretär, es sei wichtig, dass das Volk verstehe, dass es nicht ausreicht, den Trainer auszuwechseln, damit die Mannschaft gewinnt. Aus diesem Grund beinhaltete seine Rede den noch heute berühmten Ausspruch: «Ich habe nichts zu bieten ausser Blut, Tränen und Schweiss.»

Weiter sagte er: «Vor uns liegt eine Aufgabe der schwierigsten Art. Vor uns liegen viele Monate der Anstrengung und der Leiden.» Natürlich sind die Probleme, mit denen wir uns heute zu befassen haben, nicht mit den Angriffen auf Grossbritannien während des zweiten Weltkriegs vergleichbar – und ich will mich schon gar nicht mit Churchill vergleichen!

Aber auch wenn ich Gefahr laufe, mich damit unbeliebt zu machen: Ich sträube mich gegen Populismus. Ich appelliere vielmehr an die Vernunft: jeder von uns ist zum Beispiel gleichzeitig Konsument und Patriot. Der Konsument in uns sucht nach dem günstigsten Preis für das, was er kaufen möchte. Im Blick auf die teilweise grossen Preisunterschiede kann man jene nicht verurteilen, die manchmal Einkäufe im Ausland machen. Wir alle wissen allerdings auch, dass jene, die das regelmässig tun, den Handel in unserem Land schwächen. Deshalb sollte jeder von uns auch als Patriot agieren und dort, wo der Preiswettbewerb spielt, in der Schweiz einkaufen. Selbstverständlich erwarte ich dies und gehe mit gutem Beispiel voran. Als Patriot, mit der Ambition, dem Land den Wohlstand und die Sicherheit auf Dauer zu erhalten.

Vor zwei Jahren, bei meiner 1.-August-Ansprache in Lauenen, als ich noch nicht Bundesrat war und wir uns in der Finanzkrise befanden, sagte ich: «Wir erleben eine Zeit der Spannungen, ausgelöst von einer weltweiten Vertrauenskrise. Die Unsicherheit regiert und vor uns liegen grosse Herausforderungen. Aber was sehen wir währenddessen? Zeitungsspalten voll mit dem Hin und Her und den taktischen Spielchen um die Bundesratswahl. Vertrauen, sich gegenseitig aufeinander verlassen können, wie es der Bergführer in seiner Seilschaft kennt, ist das Erfolgsrezept. Unser Land war immer dann stark, und zeigte dann ein Problemlösungsverhalten, wenn das Gesamtinteresse und das Gemeinwohl in den Vordergrund gestellt wurden. Nicht von ungefähr sind wir eine Willensnation. Für die Bewältigung der Zukunft müssen wir wieder vermehrt bereit sein, uns für die Gemeinschaft einzusetzen, unsere Partikularinteressen zugunsten der Allgemeinheit zurückzustellen und Zurückhaltung in persönlichen Angelegenheiten zu zeigen. Der Glaube an die eigene Leistung, aber auch die Eigenverantwortlichkeit gehört gefördert; Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit haben dabei nichts zu suchen. Wir sind damit alle gefordert. Diese Aufgabe lässt sich nicht delegieren, wir alle, Sie und ich, sind hier gefragt.»

Wie Sie sehen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, je grösser die Veränderungen, desto mehr bleibt alles beim Gleichen!

Ich bin mir bewusst, dass wir uns in einem Wahljahr befinden. Wie meine Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat und wie viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier bin ich bereit, mich einer Wiederwahl zu stellen. Nicht, weil mein Stuhl so bequem wäre, das können Sie mir glauben! Sondern weil ich vor einem Jahr meinen Platz als Unternehmenschef mit einer Überzeugung verliess, die ich auch heute noch habe, nämlich: dass es möglich ist, einen zwar bescheidenen, aber für das Wohlergehen des Landes und seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger wichtigen Beitrag zu leisten.

Ja, ich will meine Aufgabe weiterführen. Allerdings nicht zum Preis, mit populistischen und sogar gefährlichen Entscheidungen ohne langfristig positive Auswirkungen gefallen zu wollen. Für solche Manöver gebe ich mich nicht her. Von mir werden Sie nur das hören, wozu ich auch aus Überzeugung stehen kann. Ich bin mir bewusst, dass ich ein Risiko eingehe, wenn ich das sage. Wie früher als Unternehmer ist es auch als Bundesrat und Vorsteher des Wirtschaftsdepartements meine Pflicht und Schuldigkeit, offen und ehrlich zu Ihnen zu sprechen. Ich bin kein gieriger Politiker, der um jeden Preis an seinem Sitz festhalten will. Festhalten will ich allerdings, und dies kompromisslos, an der Überzeugung, dass wir heute genau das tun, was uns in Jahren die Nase immer noch vorne halten lässt.

Liebe Langenthalerinnen und Langenthaler, Sie wissen, dass ich über die langen Jahre immer nur eine Zielsetzung verfolgte: nämlich mitzuhelfen, jedem und jeder eine Perspektive aufzutun. Gemeint ist ein Arbeitsplatz. Und heute stehen wir als Region und als Land diesbezüglich ausgezeichnet da. Nirgends auf der Welt ausser bei uns finden Sie Arbeitslosenzahlen von unter drei Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit momentan sogar bei rekordverdächtigen 2,5%. Dies zu verteidigen ist meine Devise. Dafür kämpfe ich und dafür müssen wir alle künftig und gemeinsam noch viel mehr kämpfen! Es gibt keine Wunderlösungen. Die nächsten zwei bis drei Jahre werden schwierig werden. Auch wenn die Regierung alles in ihrer Macht Stehende unternehmen wird, um Lösungen zu finden und umzusetzen, braucht es den Glauben an unser Potenzial, unsere Beharrlichkeit, unsere Innovationskraft und unsere Kreativität. Auf diese Fähigkeiten haben wir uns – ich erinnere an das Beispiel der Uhrenindustrie – noch immer verlassen können. Diese Qualitäten haben immer zu unserem Erfolg beigetragen, und die Geschichte zeigt, dass wir stets gestärkt aus der Krise herauskamen.

Aber um schwierige Zeiten zu überstehen, müssen alle am gleichen Strick ziehen, egal wie unterschiedlich unsere politischen Ansichten sein mögen. Ob nun bald Wahlen stattfinden oder nicht, in Zeiten wie wir ihnen entgegen gehen, müssen Parteienstreitigkeiten beiseitegelegt werden. In diesem Sinne: machen wir uns an die Arbeit! Packen wir die Herausforderungen an! Ich bin überzeugt davon, dass es möglich ist, mit unserem oft bewiesenen Pioniergeist unseren Platz als wichtigen intellektuellen und industriellen Standort einer internationalen Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken. Dank unserer weltoffenen Wissensnation sind wir fähig, unseren Weg des internationalen Erfolgs trotz der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem starken Schweizer Franken fortzusetzen. «Jetzt erst recht» muss unsere Devise sein. In diesem Sinne lassen Sie uns nun feiern! Ich wünsche Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein weiterhin fröhliches Fest!

(Es gilt das gesprochene Wort)

Bücher von Life Coach Fritz Dominik Buri